Menschen mit Zivilcourage: Gene Sharp, 84 J., US-amerikanischer Politikwissenschaftler

Sicherheitshalber: Gene Sharp und sein Konzept einer Sicherheit ohne Militär

Von Klaus Heidegger

       Es war an einem nass-grauen Frühlingsabend im Jahr 1990 in der nass-grauen nordenglischen Industriestadt Bradford. Mit ein paar Teilnehmern der Konferenz über Soziale Verteidigung war ich am Ende des Tages auf einem Pub-Crawl rund um das Studentenviertel. Mit dabei war eine Person, die ich bis zu jenem Augenblick noch nicht gekannt hatte. Alle, die da mit mir unterwegs waren, wussten sehr wohl aber, wer dies war. Gene Sharp. Kein Unbekannter in der wissenschaftlichen Szene der Gewaltfreiheit. DER amerikanische Experte über nicht-militärische Konzepte.

Mit diesen Ideen verband ich bislang das asketische Auftreten eines Mahatma Gandhi, das religiös-motivierte Denken eines Martin Luther King oder die kühl-intellektuellen Darstellungen von Theodor Ebert – drei Klassifizierungen, die zunächst so gar nicht zu Gene Sharp passen. Er liebte es, im Pub nicht nur ein Bier zu trinken. Sicher kein Asket. Er war US-amerikanisch selbstsicher und jovial. Mit einem Professor aus Harvard wie mit einem Kumpel zusammen sein, war für mich ungewohnt. Vor allem aber reagierte er fast unwirsch, wenn jemand, wie ich, religiös-ethische Motivationen für eine gewaltfreie Friedens- und Sicherheitspolitik ins Spiel brachte. Seit dieser Begegnung wollte ich mehr über Gene Sharp wissen. Bereitwillig vermittelte er mir einen Zugang, um 1993/94 in Boston bei der Civilian-Based Defense Association als Volunteer tätig zu sein und in diesem Zusammenhang an einem Forschungsseminar am Institut for International Affairs der Harvard University mitzumachen. Die Forschungsfrage lautete: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, dass mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass eine nicht-militärische Strategie funktioniert?

20 Jahre später sind die Konzeptionen, die Gene Sharp erarbeitet und auf eine fundiert wissenschaftliche Basis gestellt hat, nicht weniger gültig. Im Gegenteil: Die Volkserhebungen in den arabischen Ländern in den Wintermonaten 2010/2011 zeigen, dass ein gewaltfreier Aufstand gegen Diktaturen gelingen kann. Aber auch das Gegenteil bewahrheitet sich laufend auf erschreckende Weise: Militärisch hochgerüstete Staaten können keine Sicherheit schaffen. Im Gegenteil. Gerade erweist sich die Militärfestung Israel als jenes Land mit der geringsten Sicherheit. Je mehr die USA oder Russland in ihrem Kampf gegen den Terror auf militärische Maßnahmen setzen, desto mehr steigt die Unsicherheit. Darum also bietet Gene Sharp und der von ihm gegründete Thinktank der Albert-Einstein Institution eine realpolitische und pragmatische Alternative an.

Bewusst nannte Gene Sharp seine Grundidee „Civilian-based Defense“, ein Begriff, der sich letztlich nicht so leicht ins Deutsche übertragen lässt. Civilian meint zunächst „nicht-militärisch“, geht also in Richtung „zivil“. „Civil“ könnte mit „bürgerlich“ übersetzt werden, meist in der Konnotation „unabhängig vom Staat“. Letzteres meint Sharp aber bewusst nicht. Wenn er von „Civilian-based“ spricht, dann will er eine staatliche VERTEIDIGUNGSPOLITIK in die Pflicht nehmen. Hier liegt der große Unterschied zur Konzeption einer Sozialen Verteidigung, wie sie unter der Ägide von Theodor Ebert in Europa beginnend mit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt worden ist. Eberts Bücher waren die wichtigste Grundlage für Tausende Wehrdienstverweigerer, als es noch eine Zivildienstkommission gab. Während Soziale Verteidigung jedoch als Volksstrategie gedacht wurde, die vielfach im bewussten Gegensatz zu einer staatlichen Verteidigung gesehen wurde, lautete der Grundsatz von Gene Sharp: Staaten könnten sich mit einer vom Staat organisierten nicht-militärischen (civilian) Verteidigung, die auf den Strategien und Methoden der gewaltfreien Aktion aufbaut, von der militärischen Politik befreien und so ihren Bevölkerungen ein Mehr an Sicherheit anbieten. Damit ergibt sich ein dreifacher Mehrwert:  Civilian-based defense wäre nicht nur finanziell wesentlich günstiger, sondern zugleich auch sicherheitspolitisch effizienter und mit Erfolgsgarantie gekoppelt. Drittens schließlich würde es zu einer starken Vernetzung zwischen Bevölkerung und staatlicher Politik kommen, die zu einer wechselseitigen Befruchtung führen würde.

In Boston hatte ich genügend Gelegenheit, ein langes Bücherregal mit den Werken von Gene Sharp und seinen „Schülern“ zu füllen und zu studieren. Ich begann mit dem dreibändigen Opus „The Politics of Nonviolent Action“. Sharp weist an Hand großer Beispiele in der Geschichte nach, dass jede politisch-militärische Macht (POWER) in sich zusammenbrechen muss, wenn sie nicht den Rückhalt in einer Bevölkerung hat.  Darauf baut der gewaltfreie Kampf (NONVIOLENT STRUGGLE) auf, wobei die englische Sprache hier scharf zwischen „fight“ als militärische Variante und „struggle“ als nicht-militärisches Pendant unterscheidet. Minutiös listet Sharp im dritten und umfangreichsten Band seiner Trilogie über die Politik der gewaltfreien Aktion 198 Methoden der gewaltfreien Aktion (METHODS OF NONVIOLENT ACTION) auf und bringt jeweils historische Beispiele dazu. Diese Methoden und Techniken freilich verlangen – genauso wie militärische Maßnahmen – Trainings und Vorbereitungen, die auch von staatlichen Stellen gezielt durchgeführt werden sollten. Noch zur Zeit des Kalten Krieges hatte Gene Sharp bereits die Utopie, dass sich Europa-West mit einer Civilian-based Defense ganz von den militärischen Anstrengungen und Blockbildungen abkoppeln könnte und zugleich keine Angst vor einer sowjetischen Machtübernahme haben müsste. („Making Europe Unconquerable“) . In seinem dicken Wälzer „Gandhi as a Political Strategist“  analysiert Sharp vor allem, wie Gandhi als Stratege den reichen Fundus gewaltfreier Methoden bediente, um Indien von der englischen Kolonialmacht zu befreien und einen unabhängigen Staat aufzubauen. Für Gene Sharp sind es „Blaupausen“ – oder heute würden wir wohl von „Copy and Paste“ sprechen – die für jeden Staat dieser Welt zutreffen würden. Auch für Österreich. Damit wären wir in diesem Land die leidige Frage nach dem besseren militärischen System los. Jedenfalls hat Gene Sharp den vor kurzem verliehenen „Right Livelihood Award“ zu Recht verdient.