Stellungnahme von Pax Christi International anlässlich des ersten Jahrestages des Krieges in der Ukraine

21. Feb 2023 – Erklärung von Pax Christi International

„Schauen wir auf die vielen Zivilist:innen, deren Tötung zum Kollateralschaden gemacht wird. Fragen wir die Opfer selber. Achten wir auf die Geflüchteten, … auf die Mütter, die ihre Kinder verloren haben, auf die Kinder, die verstümmelt oder ihrer Kindheit beraubt wurden. Lasst uns die Wahrheit dieser Gewaltopfer beachten, betrachten wir die Realität mit ihren Augen und hören wir ihren Berichten mit offenem Herzen zu. Dann können wir den Abgrund des Bösen im Innersten des Krieges sehen, und es wird uns nicht stören, als naiv betrachtet zu werden, weil wir uns für den Frieden entschieden haben.“ (Papst Franziskus, Fratelli Tutti, 2020, par. 261)

Ein Jahr nach der russischen Invasion in der Ukraine drückt Pax Christi International seine tiefe Sorge für die zahllosen Opfer eines Krieges aus, der zu Tod, Verletzungen, Vertreibung, Traumata und ökologischen Schäden geführt hat. Dieser Krieg hat fast 6 Millionen Binnenvertriebene und 8 Millionen Flüchtlinge hervorgebracht, mehr als 7.200 Zivilist:innen, darunter über 400 Kinder, und Hunderttausende von Soldaten getötet und ein Generationentrauma verursacht.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat deutlich gezeigt, dass es keine internationale Autorität gibt, die klug genug gewesen wäre, die Ursachen wirksam zu bekämpfen, oder über angemessene Mittel verfügt hätte, um Russlands brutale Invasion zu verhindern. Das Völkerrecht gesteht jeder souveränen Nation das Recht auf Selbstverteidigung zu. In einer Welt mit hochgradig zerstörerischen Waffen kann bewaffnete Selbstverteidigung eine Eskalation bis hin zu einem Atomkrieg auslösen.

Deshalb ruft Pax Christi International die internationale Gemeinschaft eindringlich dazu auf, sofort diplomatische Initiativen zur Wiederherstellung der internationalen Ordnung und der territorialen Integrität der Ukraine zu schaffen. Wir appellieren an Russland und die Ukraine, unverzüglich, auf neutralem Boden und mit einem für beide Seiten akzeptablen Vermittler in Verhandlungen zu treten.

Unzureichende Mittel für die Entwicklung und den Ausbau bewährter gewaltfreier Verteidigungsstrategien, einschließlich der sozialen Verteidigung, haben den Eindruck entstehen lassen, dass Selbstverteidigung immer und ausschließlich mit Waffen erfolgt. Viele Ukrainer:innen zeigen jedoch deutlich und mit großem Mut, dass gewaltfreie Verteidigung sehr effektiv sein kann und mit erheblichen Investitionen in Ressourcen, Ausbildung und Forschung viel leichter verfügbar sein könnte.

Pax Christi International ruft die internationale Gemeinschaft auf, in die Entwicklung gewaltfreier Strategien zur Verteidigung und für einen gerechten Frieden zu investieren.

Als Menschenrechts- und Friedensbewegung setzt sich Pax Christi International für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung für Soldaten und Zivilist:innen auf beiden Seiten des Konflikts ein. Wir fordern Unabhängigkeit der Medien, der politischen Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft in Russland; wir wertschätzen die vielen Formen des gewaltlosen Widerstands der russischen Gesellschaft gegen den Krieg und unterstützen alle Russ:innen, die gegen den Krieg protestieren und dabei Verhaftung und Gefängnis riskieren.

Dieser Krieg zeigt auch die Unmoral des Besitzes von Atomwaffen und die dringende Notwendigkeit ihrer Abschaffung. Die Drohung von Präsident Putin, in der Ukraine Atomwaffen einzusetzen, hat die Welt daran erinnert, dass eine einzige Atombombe eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmaßes auslösen könnte. Ein Atomkrieg würde das Ende der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, bedeuten. Pax Christi International ruft alle Staaten auf, diese Waffen zu delegitimieren und die Rechtsnorm gegen ihren Einsatz zu stärken, indem sie den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen unterzeichnen und ratifizieren.

Pax Christi International setzt sich dafür ein, das Konzept menschlicher Sicherheit in Europa und in der Welt zum Maßstab der Politik zu machen. Russland sollte ebenso wie Weißrussland und die Ukraine in ein breiteres Sicherheitskonzept einbezogen werden, das auf Vertrauensbildung und kollektiver Sicherheit basiert und Gerechten Frieden anstrebt. Das Konzept der menschlichen Sicherheit erkennt mit der Resolution 1325 der Vereinten Nationen an, dass Friedens- und Sicherheitsbemühungen nachhaltiger sind, wenn Frauen an der Gewaltprävention, der Hilfeleistung, der Traumabewältigung und den Bemühungen um einen dauerhaften Frieden beteiligt werden.

Die notwendigen Mensch zu Mensch-Friedensprozesse, die den Dialog zwischen der ukrainischen und der russischen Bevölkerung, einschließlich der Frauen und der Jugend, einbeziehen, ist wichtig für die Prävention und die Transformation des gewaltsamen Konfliktes. Pax Christi International unterstützt Initiativen, die Kontakt, Zusammenarbeit und Heilung ermöglichen.

Pax Christi International ist eine Bewegung für Versöhnung und aktive Gewaltfreiheit, die am Ende des Zweiten Weltkriegs im tiefen Glauben an die Möglichkeit eines gerechten Friedens gegründet wurde. Wir sind uns schmerzlich bewusst, dass Krieg nicht auf die Ukraine beschränkt ist, dass Gewalt in vielen Ecken der Welt endemisch ist und dass eine neue Orientierung an Gewaltlosigkeit friedenslogischem Denken dringend erforderlich ist.

Wir rufen die Mitglieder von Pax Christi und alle Menschen guten Willens zum Gebet und zur Mobilisierung für den Frieden und fordern die Staaten auf, die Beziehung zwischen menschlicher Sicherheit, der Bewahrung der Schöpfung, der Menschenwürde und einem nachhaltigen Frieden zu thematisieren und sich dringend für den Dialog einzusetzen.

„Die russische Invasion in der Ukraine fügt dem ukrainischen Volk unsägliches Leid zu, was tiefgreifende globale Auswirkungen hat. Die Aussichten auf Frieden werden immer geringer. Die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Eskalation und eines weiteren Blutvergießens nimmt zu. Ich befürchte, die Welt schlafwandelt nicht in einen größeren Krieg hinein – ich befürchte, sie tut dies sehenden Auges“

(UN-Generalsekretär Antonio Gutérrez, 6. Februar 2023)

Wenn wir in Zukunft die Ernte des Friedens und der Gerechtigkeit einfahren wollen, müssen wir hier und jetzt, in der Gegenwart, die Saat der Gewaltlosigkeit säen.“

(Mairead Maguire, Irische Friedensaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin)

 

Erklärung im englischen Originalwortlaut

“Let us look at all those civilians whose killing was considered ‘collateral damage.’ Let us ask the victims themselves. Let us think of the refugees and displaced… the mothers who lost their children, and the boys and girls maimed or deprived of their childhood. Let us hear the true stories…look at reality through their eyes…In this way, we will be able to grasp the abyss of evil at the heart of war. Nor will it trouble us to be deemed naive for choosing peace.”  – Pope Francis, Fratelli Tutti, 2020, par. 261.

One year after the Russian invasion of Ukraine, Pax Christi International expresses our deep concern for countless victims of a war that has led to death, injury, displacement, trauma, and ecological harm. This war has generated almost 6 million internally displaced persons and 8 million refugees; killed more than 7,200 civilians including over 400 children and hundreds of thousands of soldiers; and caused generational trauma.

The war of aggression against Ukraine has clearly demonstrated that no international authority exists with sufficient wisdom to effectively address the root causes or with adequate means to have prevented Russia’s brutal invasion. International law provides every sovereign nation with the right to self-defense. In a world of highly destructive weapons, armed self-defense may trigger an escalation to extremes that can even lead to a nuclear war.

For this reason, Pax Christi International urgently calls on the international community to immediately facilitate diplomatic initiatives to restore the international order and the territorial integrity of Ukraine. We plead with Russia and Ukraine to enter negotiations directly, on neutral ground, and with a mutually agreeable mediator.

Insufficient investment in developing and scaling up proven effective nonviolent strategies for defense, including civilian based defense, has created the impression that self-defense is only and always armed. Many Ukrainians are demonstrating clearly and with great courage, however, that nonviolent defense can be very effective and could be much more readily available with significant investment in resources, training, and research.

Pax Christi International calls on the international community to invest in developing nonviolent strategies for defense and just peace.

As a human rights and peace movement, Pax Christi International advocates for the right of conscientious objection for soldiers and civilians on both sides of the conflict. We call for sufficient independence for media, political opposition parties, and civil society in Russia; we highly value the many forms of nonviolent resistance to the war by Russian society; and we support all Russians who protest against the war, risking arrest and imprisonment.

This war also shows the immorality of the possession of nuclear weapons and the urgent need for nuclear abolition. President Putin’s threat to use nuclear weapons in Ukraine reminded the world that a single nuclear bomb detonated could create a humanitarian disaster of unparalleled proportions. A full-scale nuclear war would spell the end of human civilization as we know it. Pax Christi International calls on all States to delegitimize these weapons and strengthen the legal norm against their use by signing and ratifying the Treaty for the Prohibition of Nuclear Weapons.

Pax Christi International also urges a Human Security approach in Europe and in the world. Russia should be included, as well as Belarus and Ukraine, in a broader security concept based on trust building and collective security, oriented by a just peace framework. A Human Security approach also recognizes with UN SCR1325 that peace and security efforts will be more sustainable if women take part in the prevention of violence, the delivery of relief, trauma healing, and recovery efforts for lasting peace.

The need for people-to-people peace processes that involve dialogue between the Ukrainian and Russian peoples, including women and youth, are important to the prevention and transformation of violent conflict. Pax Christi International supports initiatives that allow contact, cooperation, and healing.

Pax Christi International is a movement for reconciliation and active nonviolence, founded at the end of the Second World War with a deep belief in the possibility of just peace. We are painfully aware that war is not limited to Ukraine; that violence is endemic in many corners of the world; that a new logic of peace and nonviolence is urgently needed.

We call Pax Christi members and all people of good will to pray and to mobilize for peace, urging States to address the relationship between human security, care for creation, human dignity, and sustainable peace and to advocate urgently for dialogue.

“The Russian invasion of Ukraine is inflicting untold suffering on the Ukrainian people, with profound global implications. The prospects for peace keep diminishing. The chances of further escalation and bloodshed keep growing. I fear the world is not sleepwalking into a wider war.

I fear it is doing so with its eyes wide open.”

UN Secretary General Antonio Gutérrez (6 February 2023)

If we want to reap the harvest of peace and justice in the future, we will have to sow seeds of nonviolence here and now, in the present.”

Mairead Maguire | Irish Peace Activist and Nobel Peace Laureate

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