
Der 3. Juni 2025 war wieder ein Tag, an dem Dutzende Menschen im inzwischen fast völlig zerbombten Gazastreifen von israelischen Streitkräften getötet wurden – diesmal auch im Zusammenhang mit den israelisch-amerikanischen so genannten Hilfslieferungen; es war wieder ein Tag mit unvorstellbarem Leid für mehr als zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser in den Flüchtlingslagern, hungernd, ohne ausreichende medizinische oder sanitäre Versorgung; Kinder, die so schwach sind, dass sie nicht mehr schreien können; Eltern, die um das Überleben ihrer Kinder zittern; und wieder war es ein Tag des Sterbens und Hungerns und Zerstörens.
Im ORF-Fernsehstudio wird debattiert. „ZIB Talk“. Das Format ist im Stil von einem österreichischen Privatsender. Der Moderator lässt wie in einem Gladiatorenkampf zwei und zwei Menschen mit möglichst unterschiedlichen Positionen aufeinander losgehen. Das verspricht gewissen Unterhaltungswert. Das Grauen in Nahost als Unterhaltungssendung? Schon die Fragestellung im Teaser des ORF verrät, dass dieses Setting aus vernünftiger Perspektive nur scheitern kann. Es wird gefragt: „Ist Kritik an Israel gerechtfertigt?“ Damit wird eine Ja/Nein-Konstellation vorgegeben, ein Entweder-Oder. Solche geschlossene Fragestellung freilich wird nach so vielen Kriegstagen, nach all dem Leid, das vom militanten Teil der Hamas verübt worden ist, nach dem längst als völkerrechtswidrig und genozidal bezeichneten Vorgehen des israelischen Kriegskabinetts unter Netanjahu nicht gerecht. Die zentrale Fragestellung hätte auch lauten können: „Wie gerechtfertigt ist eine Kritik …?“
Mein Dank gilt dem ehemaligen Bundespräsidenten Dr. Heinz Fischer. Er hat trotz der massiven Attacke des ehemaligen ÖVP-Abgeordneten Martin Engelberg souverän Fassung bewahrt. Engelbergs Unterstellungen waren massiv: Die Kritik von Heinz Fischer am Vorgehen der israelischen Regierung im Gaza-Krieg wurde von Engelberg und dem ehemaligen Sprecher der Jüdischen Hochschulgemeinschaft, Benjamin Guttmann, als „antisemitisch“ gewertet. Fischer wurde vorgeworfen, er bediene sich antijüdischer Ressentiments und mache die Opfer zu Tätern. Eigentlich wäre es unnötig zu sagen: Heinz Fischer hat auch in dieser Sendung wieder mit keiner einzigen Silbe generell antisraelische oder antijüdische Aussagen gemacht, im Gegenteil. Seine Kritik an Netanjahu geschieht gerade aus einer Solidarität mit Israel und dem Judentum.
Mein Dank gilt der österreichischen Amnesty International-Sektionschefin Shoura Hashemi, die faktenorientiert blieb, auch wenn sie von den beiden „Gegnern“ immer wieder unterbrochen wurde und Engelberg in einer widerwärtigen Diktion davon sprach, dass die israelischen Streitkräfte die „Kollateralschäden“ bei ihrem Tun klein hielten und auf eine „maximale Schonung der Zivilbevölkerung“ aus seien. Bei diesen Aussagen trieb es mir die Tränen in die Augen und ich war verwundert, dass Fischer und Hashemi noch ruhig bleiben konnten: Mehr als 50.000 Menschen, die im Gaza-Streifen bereits getötet worden sind; Hunderttausende verwundet und verstümmelt; zwei Millionen vertrieben und hungernd; 90 Prozent der Häuser und der Infrastruktur zerstört: Herr Engelberg, sieht so ein „Kollateralschaden und eine maximale Schonung der Zivilbevölkerung“ aus?
Es wäre nun wünschenswert, wenn der ORF die missglückte Sendung wiedergutmachen könnte. Wie wäre es mit einem anderen Setting, in dem wirklich ein Völkerrechtler oder eine Völkerrechtlerin sprechen könnten, in dem jüdische Intellektuelle reden dürften, die gerade aus ihrer Verankerung im Judentum und aus Solidarität mit Israel Kritik an Netanjahu und seinen rechtsextremen Ministern äußern? Ich nehme aus dieser Sendung die Frage von Hashemi mit: „Wie viele Menschen sollen noch sterben, bis die Strukturen der Hamas vermeintlich zerstört sind.“ Es wäre daher wünschenswert, wenn die aktuelle Online-Petition von Amnesty International für eine sofortige Waffenruhe möglichst breit unterstützt werden würde. https://action.amnesty.at/petition/genozid-gaza
Klaus Heidegger
Genozid ist kein „Kollateralschaden“ | Klaus Heidegger