Pax Christi unterwegs – SARAJEVO Reisenotizen von Adalbert Krims

32 interessierte  Frauen und Männer waren mit Dr. Richard Hussl , politischer Referent in Pax Christi Österreich, nach und in Sarajevo unterwegs. Einblick und Begegnungen mit VertreterInnnern der Kulturen und Religionen standen am Programm. SympatisantInnen und MitarbeiterInnen von Pax Chrsit Österreich , Interessierte am muslimisch-christlichen-jüdischen Dialog, an zeitgeschichtlichen Ereignissen, Entwicklungen und an friedenspoltischer Arbeit waren dabei.

9.9.2014
Am Vormittag hatten wir ein Gespräch mit der Direktorin des Instituts für islamische Tradition der Bosniaken. Das moderne Gebäude mit Bibliothek, Cafeteria, Veranstaltungsräumen und kleinem Museum ist ein Geschenk des Staates Katar (ohne Bedingungen). Die Direktorin gibt einen ausführlichen Überblick über die bosnische Geschichte, wobei sie betont, dass sich die Muslime heute überwiegend nicht mit der osmanischen Geschichte, sondern mit der Zeit der österreichisch-ungarischen Verwaltung identifizieren. Es gebe sogar eine wahre "Nostalgie" an diese "gute Zeit"! In bezug auf den Bosnienkrieg hörten wir nichts Neues, sondern das bekannte Schema: die Bosnier lebten bis zur serbischen Aggression friedlich zusammen – und heute blockieren die Serben eine notwendige Verfassungsreform für eine gemeinsame Zukunft des Landes. Durch den Krieg sind viele "Kulturmuslime" zu bewussten Muslimen geworden – und die Solidarität islamischer Staaten trug ebenfalls dazu bei. Trotzdem hat Bosnien einen eigenständigen, europäischen Islam, der auch offen ist für den interreligiösen Dialog und das Zusammenleben. 

Interessant war am späten Nachmittag das Gespräch mit dem Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina, Valentin INZKO. Seine eher positive Sicht überraschte mich. Auch er gab einen kurzen geschichtlichen Überblick, legte dann aber den Schwerpunkt auf den Friedensvertrag von Dayton, dessen Annex 4 die heute gültige Verfassung von Bosnien und Herzegowina darstellt. Die Einhaltung des Vertrages sowie die Interpretation der Verfassung obliegt dem Hohen Repräsentanten (OHR), der einem Lenkungsausschuss von 11 Staaten verantwortlich ist. Der OHR öhat weitgehende Vollmachten, zu denen auch die Entlassung von Politikern (inkl. Verbots politischer Betätigung) und die Erlassung von Gesetzen gehören. Seine Vorgänger (inkl. Petritsch) haben davon öfters Gebrauch gemacht, er nicht, sondern er hat im Gegenteil inzwischen alle Politikverbote aufgehoben. Er sieht durchaus positive Entwicklungen und hofft, noch in seiner Amtszeit den OHR abschaffen zu können, weil das Ziel erreicht ist, dass BiH "unumkehrbar auf euro-atlantischem Kurs" ist. Das absolut größte Problem ist für Inzko der nicht funktionsfähige Rechtsstaat (inkl. Korruption). Außerdem die hohe Arbeitslosigkeit von 45 Prozent (davon sind allerdings rund die Hälfte in Schwarzarbeit beschäftigt), die Jugendarbeitslosigkeit beträgt sogar 70 Prozent. Trotzdem gibt es auch Erfolge in der wirtschaftlichen Entwicklung – allein 2013 ist die Industrieproduktion um 6 %, der Export um 7 Prozent gestiegen. 

Seinen Optimismus begründete Inzko einerseits damit, dass "Diplomaten bezahlte Optimisten" sind, andererseits aber auch mit den Erfahrungen inter-ethnischer und inter-religiöser Hilfe bei der jüngsten Überschwemmungskatastrophe. Auch bei einem aktuellen Grubenunglück habe sich das gezeigt. Es stimmt also nicht, was die Politiker und die Medien immer sagen, dass die Völker nicht zusammenleben können und wollen. Auch auf Gemeindeebene oder im wirtschaftlichen bereich gebe es Zusammenarbeit über die ethnisch-religiösen Grenzen hinweg.

 

10.9.2014
in Sarajevo war wettermäßig mit Abstand der schönste – richtiges Sommerwetter! Inhaltlich war für meinen subjektiven Eindruck der 1. der pessimistischste, der 2. der optimistischste und der 3. der vielleicht realistischste. Am Vormittag Moscheebesuch und Gespräch
mit einem islamischen Theologen (und Koranexegeten). Es war interessant, doch kann man das schwer kurz zusammenfassen.

Dann zu Mittag  Gespräch mit dem Caritaspräsidenten, einem katholischen Monsignore und natürlich
Kroaten. Der bosnische Staat ist ohne internationale
Gemeinschaft (noch) nicht existenzfähig. Hauptproblem ist nachwie vor das nationale Problem – und für die Wirtschaft ist esdie Politik. Die Serben haben ihre Republik und würden sie am liebsten mit Serbien vereinigen. Die Kroaten sind in der
"Föderation" die Minderheit, viele wollen zu Kroatien, haben
sich aber damit abgefunden, dass das nicht geht. Daher sind
viele nach Kroatien oder in die EU ausgewandert (fast die Hälfte der Kroaten!). Das geht auch leicht, weil alle bosnischen
Kroaten zwei Pässe haben und somit als kroatische Staatsbürger auch EU-Bürger sind. Die Muslime wollen einen gemeinsamen Einheitsstaat. Die derzeitige Lösung ist ein Kompromiss: die muslimisch-kroatische "Föderation" besteht aus 10 Kantonen und 1 Distrikt, wobei diese in vielen Bereichen eigene Gesetze haben.
Insgesamt gibt es in B.-H. 14 Regierungen. Im sozialen Bereich sind die beiden "Entitäten" ausschlaggeben, aber auch die Kantone, während die gesamtstaatliche Ebene keine Zuständigkeit hat. 

Für die Caritas ist die Ausbildung der Schwerpunkt. Hier hat
man z. B. mit österreichischer (Regierungs- und
Caritas-)Unerstützung eine Berfusschule errichtet. Das war aber in Sarajevo gesetzlich nicht möglich, weshalb man sie in Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska errichtet, wo das möglich war. Die Caritas arbeitet nicht nur für Katholiken,sondern grundsätzlich für alle Volksgruppen. Bei Projekten, die von ausländischen Partnern finanziert werden, muss der "nicht-katholische Anteil" mindestens 20 Prozent betragen, ist aber oft auch höher. Arabische Gelder über muslimische Hilfsorganisationen kommen hingegen ausschließlich Muslimen zugute. Ein zweiter Caritas-Schwerpunkt ist der Wiederaufbaunach der Überschwemmungskatastrophe.

Am Nachmittag hatten wir Gespräch in der Jüdischen Gemeinde (inkl. Besichtigung der einzigen noch voll genutzten Synagoge, sowie der ältesten Synagoge von 1581, die Museum ist und nur zum jüdischen Neujahr noch religiös genutzt wird). Das Osmanische Reich hatte im 16. Jahrhundert viele aus Spanien und Portugal vertriebene Juden aufgenommen. In Sarajevo wurden 1566 15.000 sephardische Juden angesiedelt. Nach der
österreichisch-ungarischen Annexion kamen in dem 1880er Jahren noch ashkenazische Juden aus Polen und Galizien dazu, sodass es in Sarajevo bis zu 20.000 Juden gab. Vor 2. Weltkrieg waren es 12.000 Juden, von denen 90 Prozent von den Nazis bzw. der Ustascha ermordet wurden.  Heute leben in ganz Bosnien ca. 1.100 und in Sarajevo ca. 700 Juden, wobei es keinen einzigen Rabbi gibt (der für Bosnien zuständige lebt in Israel und kommt nur ab
und zu ins Land).

Letzter Programmpunkt war der Interreligiöse Rat, in dem
Muslime, Orthodoxe, Katholiken und Juden nach dem Konsensprinzip zusammenarbeiten, wobei die 4 Präsidenten jeweils die Oberhäupter oder höchste Repräsentanten der 4
Glaubensgemeinschaften sind. Dazu gibt es noch 12
Regionalstellen, in denen aber (weil Juden nicht vorhanden) nur 3 Religionsgemeinschaften vertreten sind. Die Programme des Rates wenden sich hauptsächlich an Jugendliche, Frauen und Religionslehrer. Es geht um dauerhaften Frieden und Versöhnung, aber auch um Kooperation gegen den Vandalismus gegen religiöse Gebäude.  Pro Jahr gibt es 50 bis 70 Übergriffe auf Kirchen und Moscheen, wobei die 3 Religionsgemeinschaften ungefähr in gleicher Zahl betroffen sind. Es geht fast ausschließlich um Angriffe der jeweiligen Mehrheit gegen die jeweiligen Minderheiten (also in Banja Luka von Serben gegen Muslime und Katholiken; in Sarajevo von Muslimen gegen Serben und Kroaten oder in Mostar gegen Serben und Muslime).

 

Wenn man Sarajevo als besondere Stadt des interreligiösen und interkulturellen Zusammenlebens bezeichnet, so stimmt das für die Vergangenheit sicher, heute aber wegen der
Bevölkerungsverschiebung nur noch bedingt: gegen Ende der
österreichischen Herrschaft waren rund ein Drittel der Bewohner Muslime, ein weiteres Drittel Kroaten, ein Sechstel Serben und ein Zehntel Juden. 1991 – vor dem Bosnien-Krieg betrug der Anteil der Musime knapp über 50  Prozent, 30 Prozent waren Serben und 7 Prozent Kroaten – die Juden waren ja zwischen 1939 und 1945 de facto verschwunden. Heute sind mindestens 80 Prozent der Bewohner Muslime, der Anteil der Serben ist auf 10 Prozent geschrumpft – und rund ebensoviele Kroaten.

Die aktuellen Zahlen sind allerdings nicht bestätigt. Die
letzte Volkszählung gab es 1991 – seither können sich die
Volksgruppen auf keine neue Zählung einigen.