Notre Dame und Europa – Ostergedanken von Willibald Feinig

Drei Tage sind vergangen, das Faktum bleibt, das ungaubliche, Notre-Dame ist abgebrannt. Schluss mit Préverts Chanson de la Seine, wo es heißt
Und eifersüchtig, streng und ungerührt
Schaut Notre-Dame
Von der Höhe seiner vielen Steine
Neidisch auf die Seine.Ein Brand, der fast niemanden unberührt lässt (außer manchen Bewohner des Internet, der virtuellen Welt), selbst Aufbegehrende nicht, und solche, die die Uhr zurückdrehen wollen, Sie nicht und mich nicht: Woher kommt diese Rührung, und wie ist sie zu deuten? – Einem Feuerwehrmann bedeutet ja Gotik schwerlich besonders viel, oder einem Händler. Symbol – Träger einer Fülle verschiedener Bedeutungen, Zentralobjekt aus Malraux‘ Musée imaginaire – o.k., aber warum rührt uns gerade das Schicksal dieser Steine so? Die Frage stellt sich mir nicht als Christ, der ich zu sein versuche, als Katholik, sondern als Bürger Europas.
Ich bin überzeugt, Notre-Dame in Paris wie auch viele andere Kathedralen, gotisch oder romanisch oder was immer, überall, ob in England, in einem der deutschsprachigen Länder, in Italien oder in Osteuropa, sind, was sie sind, durch die Sorgfalt und das Genie der Auftraggeber wie der Architekten, Bauleute und Künstler – natürlich. Bei näherem Zusehen und in der Hauptsache aber als Produkt organisierten, geordneten, arbeitsteiligen Zusammenlebens. Wenigstens anfänglich. Notre-Dame ist das, was greifbar, was geblieben ist von einer Cité, einer Stadt. Diese umfasste das Viertel der Kanoniker (die in Gemeinschaft unter einer Regel lebten und eine Schule betrieben), den Bereich des ‚Aufsehers‘ (das Wort Bischof bedeutet nichts Anderes), den Bereich für Menschen in Not und Kranke (Hôtel-Dieu = ‚Gottes Herberge und Gasthaus‘) und die Basilika, Ort der Versammlung, Feier-, Gebetsort, Haus Gottes und des ganzen Volks. Solche Cités sind die Wiegen unserer Kathedralen. Den Notwendigkeiten der Gemeinschaft verdanken sie ihre (oft unerhörte und anonyme) Schönheit (kennen Sie die Statuen, die vom einstigen Lettner erhalten sind, den Adam vor dem Sündenfall z.B. ?) Victor Hugo hat das gespürt, und Viollet-le-Duc auch, er hat ja nicht nur den originellen, nun zusammengebrochenen und anders, neu zu errichtenden Dachreiter gebaut, sondern auch das neue Hôtel-Dieu.
Ist es nicht das, was Notre-Dame uns zu sagen hat im Moment der (Beinahe)Zerstörung, zusammen mit all den Schwestern von Mailand bis Canterbury, von Chartres oder Vézelay bis Prag oder Erfurt?
Damit etwas Bleibendes, Schönes, Wohlüberlegtes und Einheitsstiftendes (Widerborstige wird es immer geben) entstehen kann, braucht es
a) gemeinschaftliches Leben, das organisiert sein will, autonom, und unweigerlich nicht zuletzt praxisorientierte Schulen umfasst, die auf vorgelebtem Beispiel und Aktualität beruhen;
b) es braucht starke, verantwortunsgvolle Kontrolle;
c) es braucht die sorgfältig organisierte Hilfe für die, die ihrer bedürfen, für Asylsuchende wie für Kranke (der erste Patron der Basilika auf der Île de la Cité war Stephanus, der Diakon (siehe Südportal; das Hôtel-Dieu stand ungefähr dort, wo jetzt Karl der Große hoch zu Roß sitzt; es waren die Domkapitulare, die nach und nach den Kult Marias einführten);
d) es braucht Sorgfalt und Solidität in Ästhetik und Liturgie im weitesten Sinn (Liturgie = ‚Arbeit des Volkes‘), das Gotteshaus selbst darf nicht leiden, es ist der Ort der Erneuerung, der Sammmlung, des Nachdenkens, Betens und des Austauschs.

Das Paris von Notre-Dame ist nicht das Lutetia Parisiorum mit Therme und Theater am linken Seineufer, es ist eine Insel mit schützender Mauer, mit Gärten, die immer neu den Sandbänken und Sümpfen entrissen werden zum Nutzen der Kranken und der Kanoniker. Ich will nichts verklären oder beschönigen – auch Villon hat auf der Île de la Cité gelebt; ich will nur die Lehre ziehen (eine Lehre) aus dem Unglück. Es trifft uns in einem Jahr, das entscheidend für Europas Zukunft ist – und Notre-Dame ist ein europäisches Symbol.
Zwei Viertel der eben skizzierten menschenwürdigen Cité scheinen mir heute besonders gefährdet in diesem Europa mit seinen kurzatmigen ökonomischen Prioritäten und seiner japsenden Innovation: Das geregelte und soweit möglich autarke gemeinschaftliche Leben und damit das Schulwesen, das die effektive Weitergabe der Erfahrungen und Errungenschaften an die kommende Generation sichert, und vor allem die « Hôtel-Dieu »-Funktion. Hier fehlt das Fundament, und daher bricht Hilfswilligkeit so schnell zusammen, über Nacht. Schauen wir der Wahrheit ins Auge, dass alles Geschenk ist? Wenn ja (und anders gibt es kein Christentum; sein zweites Standbein heißt non-violence, Verzicht auf Missbrauch von Macht und Gewalt und auf Herrschaftsdrang), sind wir verpflichtet, die Opfer, die Zurückgebliebenen am Rand unseres Wegs nicht liegen zu lassen. Keine Kathedrale ohne Hôtel-Dieu!
Von der Aufsichts- und Kontroll-Funktion wäre auch zu reden; Michel Barnier hat m. E. in diesen letzten schwierigen Jahren ein Beispiel wirksamer Leitung gegeben, unspektakulärer Arbeit hinter den Kulissen, die der Einheit dient. Vivant sequentes!

Erlauben Sie, erlaubt bitte, dass ich an dieser Stelle die Brücke schlage zu dem, was dieses Oster-Schreiben in der Hauptsache transportieren wollte, bevor der Dachstuhl von Notre-Dame in Brand geriet – ich staune selbst, wie naheliegend es ist.
Der Freund von Freunden, Stéphane Koch, der mit seiner Familie hoch oben im Pays welche in den Vogesen wohnt, zweisprachiger Volkswirtschaftler, Banker i.R., hat kompetente Europäer, vor allem Spezialisten und Wissenschaftler mit Zivilcourage, um Beiträge gebeten, die von Nutzen sind für die Neuorientierung Europas. Derzeit scheint die Union ja wie blind herumzutappen in den Nebeln der Epoche des gleichgeschalteten Hyperindividualismus, wie taub auch für die Hifeschreie der Schöpfung als ganzer, einerseits mit billiger Kritik überhäuft, andererseits in einem Ritual des Selbstlobs gefangen.
Die Landwirtschaft, scheint es, ist das größte Sorgenfeld: 70% (ich zitiere aus dem Gedächtnis) des bebaubaren Bodens in Europa sind nicht mehr fruchtbar, und dass die gewaltigen Subventionen auf Dauer niemandem helfen, den Landwirten am wenigsten, leuchtet langsam allgemein ein: Das Ehepaar Lydia und Claude Bourguignon (F) und – aus einem anderen Blickwinkel – Martin von Mackensen (D) haben sich daher an eine Gesamtdarstellung einer nach-industriellen, nachhaltigen Landwirtschaft gemacht, wie sie die bäuerliche Avantgarde in Europa und darüberhinaus bereits praktiziert, u.a. anknüpfend an uraltes Wissen. Anton Gunzinger (ETH, Autor von « Kraftwerk Schweiz ») skizziert und plant die Änderungen in der Produktion und im Konsum von Energie, die nötig sind, damit Europa selbst über genug erneuerbare Energie verfügt. Obwohl Ingenieur, steuert er als Schweizer auch interessante Beobachtungen und Vorschläge zum mangelnden Föderalismus in der EU bei. Wie in Kochs erstem vergriffenen EU-Buch, stellt Michael Braungart (Cradle to cradle) (D) sein Modell einer nachhaltigen Industrie und eines qualitativen (statt des bisherigen mörderischen, abfallintensiven quantitativen) Wachstums vor – es ist inzwischen allgemein bekannt (oder sollte es sein). Maximilian Gege (D) liefert dazu das Modell privater und rentabler Finanzierung angesichts der Überforderung der öffentlichen Hand. Beiträge von Fachleuten, aber verständlich, reich an Beispielen und viele wirtschaftliche, soziale und politische Selbstverständlichkeiten erschütternd. Mein Beitrag zu dieser wichtigen Arbeit war die Übersetzung in beide Richtungen und die Formulierung der Vision einer « Schule der Union ». Die französische Ausgabe erscheint demnächst in Colmar (unter dem Titel Oser vraiment l’Europe (=Europa wirklich wagen), 208 Seite, 25 €, J. D. Bentzinger Editeur, www.editeur-livres.com). Die deutsche Ausgabe sollte bei Schwabe, Basel etc., rechtzeitig vor den Europawahlen erscheinen, in letzter Minute ist leider der Verleger abgesprungen – er hatte wohl Angst, das Buch wäre zu kritisch gegenüber den europäischen Institutionen, Haupt- und Nebenakteuren und gewohnheitsmäßigen Praktiken. Koch sucht einen neuen Verlag. Ich kann sein SOS eines europäischen Regenwurms nur empfehlen. Sollte jemand schon jetzt ein dringendes und berechtigtes Interesse an einer der Übersetzungen für den Eigengebrauch haben, möge er sich an mich wenden.

Gesegnet seien alle, aus welcher Denkschule sie auch kommen mögen, ob aus dem postsowjetischen Osten, oft schwer enttäuscht (sie haben wohl Wunder erwartet), ob aus Nord- oder Mitteleuropa (diesem einstigen Nazi-Terrain, das dank seiner erschreckenden Vergangenheit hoffentlich immunisiert ist), aus dem Westen, der sich von Narvik über Coventry, Ypern, Verdun bis Guernica erstreckt, oder aus dem Mittelmeerraum – offen nach Afrika und dem Nahen Osten, kurz alle, die togetherness & conversibleness praktizieren, um die Sprache zu verwenden, die zur lingua franca Europas und der Welt geworden ist und vorläufig bleibt – trotz der schlimmen Nachrichten aus UK und US, weit ärger als die vom Brand in Paris.
Und verflucht die anderen, die wirklichen Frechen, deren Vergnügen die Zerstörung ist und die ihren Profit dabei haben – immer schon gehabt haben.

Die Osterpost meiner Frau Betty enthält die Botschaft, die Jugendliche aus der ganzen Welt zu Ostern 1970 in Taizé formuliert haben (ein Jahr nach dem Aufenthalt meiner (Matura)Klasse in der Partnerschule in Paris). Hier ist sie, gleich aktuell wie damals. Sie wendet sich an die Kirche – die erst langsam realisiert, wie sie sich selbst besudelt hat, während sie gleichzeitig alte, der Änderung bedürftige Usancen für sakrosankt erklärte. Und an Europa, von den Dämonen der Spaltung und der Verdächtigungen heimgesucht mehr denn je :
„Der auferstandene Christus kommt, um im Innersten des Menschen ein Fest lebendig werden zu lassen. Er bereitet uns einen Frühling der Kirche: Einer Kirche, die über keine Machtmittel mehr verfügt, bereit, mit allen zu teilen, Ort sichtbarer Gemeinschaft für die ganze Menschheit. Er wird uns genügend Phantasie und Mut geben, einen Weg zur Versöhnung zu bahnen. Er wird uns bereit machen, unser Leben hinzugeben, damit der Mensch nicht mehr Opfer des Menschen sei.“

Dieser Geist ist es, generationsübergreifend, mutig, aber konstruktiv, der auch die oben vorgestellten Reformvorschläge für die EU inspiriert. Dieses innere Fest, ohne das es niemals Wunderwerke gegeben hätte, wie Notre-Dame in Paris eines ist.

Frohe Ostern !

Willibald Feinig
Altach (20042019)