Gedanken zum Terror – und wie darauf reagieren?
Beiträge von Christian Wolff in der Zeitschrift ‚Kritisches Christentum‘ und im Blog

Christian Wolff:
GEDANKEN ZUM TERROR
Der evangelische Theologe und langjährige Pfarrer der Thomaskirche in Leipzig, Christian Wolff, betreibt auf seiner Internetseite (http://wolff-christian.de/) einen Blog, in dem sich mit aktuellen Ereignissen auseinandersetzt und versucht, die christliche Botschaft im säkularen Umfeld zu kommunizieren. So hat er sich in den letzten Wochen mit den islamistischen Anschlägen – von Dresden über Paris und Nizza bis Wien –, insbesondere mit deren religiöser Legitimierung, beschäftigt.
Christian Wolff hat der Veröffentlichung seiner Blogeinträge vom 23. 10. („Vom Elend des Fudamentalismus“) sowie vom 3. 11. („Wieder Terror – und wieder die Frage: wie darauf reagieren?“) in „KC“ zugestimmt.
VOM ELEND DES FUNDAMENTALISMUS
Blog vom 23. Oktober 2020
Die grausame Enthauptung des französischen Geschichtslehrers Samuel Paty auf offener Straße im Pariser Vorort Conflans-Saint-Honorine durch einen Islamisten und der tödliche Messerangriff eines syrischen Islamisten auf zwei Touristen in Dresden am 4. Oktober 2020 legen schonungslos offen: Jede Form von Fundamentalismus ist nicht nur menschenfeindlich, Fundamentalismus ist der Vorhof des Terrorismus. An solch horrenden Verbrechen gibt es nichts zu rechtfertigen oder zu beschönigen. Wenn wir aber nun eine Debatte über die Vorgänge in Paris und Dresden führen, dann haben wir sehr zu differenzieren zwischen dem gewalttätigen Fundamentalismus und der Ideologie, dem politischen Programm, der Religion, auf die er sich beruft. Denn das Wesen des politischen, religiösen, moralischen Fundamentalismus besteht darin, dass durch ihn anders denkende, anders glaubende Menschen in ihrer Integrität so entwertet werden, dass die Auslöschung ihres Lebens als heldenhafte Tat gewertet wird. Im Fundamentalismus geht es eben nicht darum, die eigene Position und Überzeugung zu entwickeln, zu festigen und in einen öffentlichen Diskurs einzubringen. Vielmehr werden die eigene Ideen- oder Glaubenswelt absolut gesetzt, und alle, die sich dort nicht beheimaten wollen bzw. diese ablehnen, als lebensunwerter Störfaktor betrachtet. Man macht aus ihnen Ungeheuer, Geziefer, Untermenschen, Teufelsanbeter, die ihr Lebensrecht verwirkt haben. So wird jede Hemmung vor todbringender Gewalt ab- und die Brücke zum Terrorismus gebaut.
Es ist der Fundamentalismus, der so gefährlich ist – nicht aber der Islam, das Christentum, der jüdische Glaube, die Moral oder eine radikal links oder rechts ausgerichtete politische Überzeugung. Sie sind für sich genommen Teile der Vielfalt menschlichen Lebens. Über sie muss offen gestritten werden können. Darum sollten wir uns hüten, fundamentalistische Gewalttaten dazu zu missbrauchen, Religion, Politik, Moral als solche zu bekämpfen. Gleichzeitig müssen aber gerade Religionsgemeinschaften, insbesondere Kirchen und islamische Verbände, ihren Beitrag dazu leisten, dass sie offensiv und unaufgefordert den mit ihrem Glauben verbundenen oder den sich auf diesen Glauben berufenden Fundamentalismus eindämmen. Sie sind vor allem aufgerufen, den Fundamentalismus grundsätzlich zu ächten. Das schließt ein, dass die eigene Vergangenheit darauf hin kritisch überprüft wird, wo die Kirche als Institution fundamentalistisch aufgetreten ist.
In diesem Sinn verstehe ich die jüngsten Äußerungen von Papst Franziskus zur Homosexualität als einen – zugegebenermaßen winzigen – Schritt in die richtige Richtung. Der Papst erkennt endlich die Realität der Homosexualität als legitime Lebensäußerung von Menschen an. Damit bricht er mit einer kirchlichen Praxis, Homosexualität als Sünde, Krankheit, Perversität zu betrachten und von Gesellschaften zu erwarten, diese Sicht zu übernehmen. In früheren Zeiten führte das in den Kirchen dazu, Schwule und Lesben gewalttätig auszugrenzen und ihrer Vernichtung tatenlos zuzusehen (wie in der Nazizeit). Auch heute noch fühlen sich fundamentalistische Kreise aufgerufen, homosexuell Lebende mit Gewalt zu bedrohen oder Frauen, die abgetrieben haben, bzw. Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, an den Pranger zu stellen, gewalttätig zu ächten, zu terrorisieren. Darum ist es wichtig, dass die Institutionen, auf deren Glaubensgrundlagen sich Fundamentalisten in ihrem schändlichen Tun berufen, klar stellen: Auch wer für sich Homosexualität für eine Sünde oder Perversität hält, auch wer für sich Schwangerschaftsabbruch als Tötungsdelikt wertet – Menschen, die den eigenen Maßstäben nicht genügen, haben ein unveräußerliches Lebensrecht. Dieses muss gerade von Juden, Christen, Moslems ohne Wenn und Aber verteidigt werden. Gleiches gilt natürlich für die kritische Auseinandersetzung über Glaubensgüter in einer freien und offenen Gesellschaft. Hier kann und darf es keine Beschränkungen geben – außer denen, die durch das Strafrecht vorgegeben sind.
Es wäre viel geholfen, wenn wir uns in einer demokratischen Gesellschaft einig werden können: Der Fundamentalismus, also die Absicht, nicht nur andere Überzeugungen zu bekämpfen, sondern den Andersdenkenden und Andersglaubenden zu vernichten, ist eine große, Tod bringende Gefahr für das multireligiöse und multikulturelle Zusammenleben – und zerstört wie in Paris und Dresden Menschenleben und stürzt die Angehörigen der Ermordeten in tiefes Leid. Gerade das muss uns wachrütteln.

WIEDER TERROR – UND WIEDER DIE FRAGE: WIE DARAUF REAGIEREN?
Blog vom 3. November 2020
Wieder ein schrecklicher Terroranschlag. Dieses Mal in Wien. Wieder einer, für den offensichtlich islamistisch eingestellte Menschen die Verantwortung tragen. Wie sollen wir mit einem so horrenden Verbrechen umgehen? Wie darauf als Bürger*in reagieren? Wie Orientierung finden? Was ist zu tun? Dazu sechs Anmerkungen:
Wir müssen als Erstes die Opfer in den Mittelpunkt stellen. Sie und die Angehörigen der Verletzten und Ermordeten sind diejenigen, die die ungeheure Last der Tat zu ertragen haben und darunter zum Teil ein Leben lang leiden. Darum gehört ihnen dauerhaft tatkräftige Anteilnahme, Schutz und materielle wie psychologische/seelsorgerische Unterstützung und Empathie.
Das Massaker von Wien wie die Attentate in Dresden, Paris und Nizza müssen ohne jeden Vorbehalt, ohne jeden Anschein einer Rechtfertigung verurteilt werden. Keine Tat wird durch Hinweis auf noch schlimmere Verbrechen geringer oder erträglicher!
Für die Tat sind natürlich zuerst und vor allem der bzw. die Täter*innen verantwortlich. Dennoch muss bei ideologisch abgeleiteten Verbrechen auch das Umfeld der Täter*innen ausgeleuchtet werden – in diesem Fall islamistische Gruppierungen in den Städten, in denen Terroranschläge geplant und ideologisch abgesegnet werden.
Es kommt darauf an, dass diejenigen, die nichts mit diesen gewalttätigen Gruppierungen bzw. Einzeltätern zu tun haben, die aber auch den Islam als ihre Glaubensgrundlage und religiöse Heimat ansehen, sich sehr klar und unmissverständlich von solchen Gruppen und ihren Taten distanzieren und ihren Glauben gegen ewalttätige Fundamentalisten verteidigen. Das gilt aber nicht nur im Blick auf den Islam. Jede Religion muss klare Trennlinien zu denen ziehen, die den Glauben als ideologische Rechtfertigung von Verbrechen missbrauchen.
Alle, die von den Attentaten nicht unmittelbar betroffen sind, aber solche Taten als Angriff auf ihre Lebens- und Glaubensweise verstehen, sollten sich davor bewahren, von solchen Verbrechen auf – in diesem Fall – Menschen muslimischen Glaubens zu schließen und entsprechende Ausgrenzzungen vorzunehmen. Ich möchte als evangelischer Christ auch nicht, dass von einem rechtsextremistischen Massenmörder Anders Breivik, der sich 2011 beim Massaker in Oslo und auf der Insel Utoya auf das Christentum berief, auf den christlichen Glauben geschlossen und somit jeder Christenmensch als potentieller Terrorist angesehen und verdächtigt wird.
Von allen Politiker*innen muss erwartet werden, dass sie sich nicht von den islamistischen resp. fundamentalistischen Täter*innen auf die Ebene der Gewalt und des Krieges ziehen lassen. Darum ist es mehr als widersinnig und höchst gefährlich, wenn der französische Innenminister Gérald Darmanin davon spricht, dass „wir … uns jetzt im Krieg gegen den Islamismus (befinden)“. Wer so redet, gönnt den Terroristen einen enormen ideologischen Erfolg. Denn genau das suchen und wollen sie: Krieg.
Schlussfolgerung: Gerade weil die Terroristen mit brachialer Gewalt alle Grundwerte der Religionen und des menschlichen Miteinanders bekämpfen, sind im Kampf gegen den fundamentalistischen Terrorismus die Grundwerte wie Menschenwürde, Freiheit, Gleichberechtigung, Nächstenliebe, Rücksichtnahme, Gewaltlosigkeit die stärksten Waffen! Sie auch in der Prävention entschlossen anzuwenden, trocknet langfristig gesehen jede Form von Fundamentalismus aus und bewahrt uns das, was Terroristen zerstören wollen.
Christian Wolff, 1949 in Düsseldorf geboren, studierte evangelische Theologie in Wuppertal und Heidelberg. Nach dem Vikariat trat er 1977 die Pfarrstelle an der Unionskirche in Mannheim-Käfertal an. Von 1992 bis 2014 war er Pfarrer an der Thomaskirche Leipzig, seit 1998 1. Pfarrer und Pfarramtsleiter. 2014 hat er die Initiative „Willkommen in Leipzig – eine weltoffene Stadt der Vielfalt“ ins Leben gerufen, die sich für das Grundrecht auf Asyl, für eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen und für eine multireligiöse und multikulturelle Stadtgesellschaft einsetzt. Seit 2014 ist er als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig und hält Predigten und Vorträge zu kirchlichen und gesellschaftspolitischen Themen im In- und Ausland. Christian Wolff hat mehrere Bücher veröffentlicht: darunter Osterweiterung. Leben im neuen Deutschland. Evangelische Verlagsanstalt, 2. Auflage, Leipzig 2013 und Die Thomaskanzel. Orientierung zwischen Zweifel und Gewissheit. Evangelische Verlagsanstalt, 2. Auflage, Leipzig 2004. 2017 veröffentlichte er zusammen mit Friedrich Schorlemmer das Memorandum „Reformation in der Krise – wider die Selbsttäuschung“.