Rede von Kaplan Franz Sieder zum Nationalfeiertag

65. Jahrestag der Beschlusses der immerwährenden Neutralität:
Aktive Neutralität heißt Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit

Rede von Kaplan Franz Sieder bei der Kundgebung „Neutralität verbindet – Militärblöcke spalten“ am 26. Oktober 2020 in Wien

Liebe Österreicherinnen und Österreicher!
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!

Ich spreche hier als Vertreter der weltweiten katholischen – in Österreich auf Länderebene ökumenischen – Friedensbewegung Pax Christi. Als katholischer Priester möchte ich über die Spiritualität der Neutralität sprechen.

Die spirituelle Dimension der Neutralität wird kaum angesprochen und sie hat auch keine Wertschätzung. Es ist der ethische Wert der Neutralität und es geht dabei vor allem um die aktive Neutralität und nicht um die passive Neutralität. Die Neutralität ist dadurch auch ein ganz wichtiges Instrument für den Frieden.

Der Theologe Helmut Gollwitzer sagt: „Die Neutralität führt auf ein Feld, das dazwischen liegt – sie führt in ein Niemandsland, in dem zwischen den Fronten der Gegner besondere Zeichen der Hoffnung aufgerichtet werden.“ Als neutrales Land haben wir eine prophetische Aufgabe und eine größere prophetische Kompetenz als andere Länder in der Welt. Konkret heißt das, dass Österreich in allen Konfliktregionen der Welt als Mediator aktiv werden soll. Wenn wir die Neutralität nur so sehen, dass wir niemand angreifen und von niemand angegriffen werden sollen, dann ist das eine unwürdige und primitive Deutung der Neutralität. Es gab in Österreich eigentlich nur einen Politiker, der von einer tiefen Friedensspiritualität beseelt war und der auch aktive Neutralitätspolitik betrieben hat und das war Bruno Kreisky. Unentgeltlich und selbstlos – um des Friedens willen – hat er sich bemüht, den Friedensprozess zwischen Israel und Palästina voranzubringen.

Als neutraler Staat sollte Österreich auch mehr Ausbildungsstätten für Friedensmediatoren / Friedensmediatorinnen und Friedensaktivsten / Friedensaktivistinnen haben, die hinausgehen in die Konfliktherde unsere Welt, um dort Frieden stiften. Momentan gibt es in Österreich nur eine einzige solche Ausbildungsstätte. Sie ist in Stadtschlaining in Burgenland und sie steht vor dem Ende, weil sie von der Politik finanziell ausgehungert wird. Ich würde es auch gutheißen, wenn unsere Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker ein Neutralitätsseminar absolvieren, damit sie fähig werden, als Mediatorinnen und Mediatoren, als Friedenstifterinnen und Friedensstifter aufzutreten. Ein/e echte/r Friedensvermittler/in – ein/e Neutralitätsaktivist/in agiert nicht nur mit Taktik und Diplomatie – er / sie hat auch tiefe spirituelle Wurzeln in der Seele. Er oder sie denkt nicht nationalistisch – er oder sie hat eine Weltverantwortung. Frieden und Gerechtigkeit sind ihm / ihr ein Herzensanliegen. Er oder sie haben einen edlen Charakter. Sie sind keine PopulistInnen, die nur auf WählerInnenfang sind.

Diese Friedens- und Neutralitätsspiritualität ist leider bei unserem aktuellen Bundeskanzler nicht vorhanden. Einer, dem die unmenschliche Situation in den Flüchtlingslagern wurscht ist, einer, der im Israel-Palästina-Konflikt parteiisch für Herr Netanjahu ist und einer, der in seinem Verantwortungsbewusstsein über die nationalen Grenzen nicht hinausblickt, ist nicht fähig, Friedensvermittler zu sein. Wenn ein anderer österreichischer Bundeskanzler, nämlich der Herr Schüssel, einmal die Neutralität mit Mozartkugeln und Lipizzanern verglichen hat – dann war das eine Verhöhnung der österreichischen Neutralität und mit einem sportlichen Vergleich hätte man ihm die rote Karte zeigen müssen. Er hat sich zwar als christlicher Politiker ausgegeben, aber christlich geht anders.

Die aktive Neutralität soll aber nicht nur in die Gehirne und in die Seelen der Politikerinnen und Politiker einkehren. Sie soll immer mehr auch lebendig werden im österreichischen Volk, besonders bei den jungen Menschen. Es ist traurig, dass es in Österreich ungeheuer viele politische Analphabetinnen und Analphabeten gibt. Die aktive Neutralität beginnt schon dann, dass sich die Menschen interessieren, was in der Welt so vorgeht und nicht nur Zuschauerinnen und Zuschauer spielen. Es geht auch darum, dass die Menschen die Ungerechtigkeiten unserer neoliberalen Wirtschaft erkennen, durch die Reichen immer reicher und die Armen ärmer werden.

Weltweit spielen wir momentan auf einem schiefen Fußballfeld. Die einen müssen immer bergauf spielen und die anderen spielen bergab. Wir als eines der reichsten Länder gehören natürlich zu denen, die bergab spielen. Es sollen aber die Menschen auf einem ebenen Fußballfeld spielen können. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen dauerhaften Frieden – und Gerechtigkeit ist mehr als Barmherzigkeit – mehr als Almosengeben an die Armen. Friede ist die Realisierung der demokratischen und sozialen Grundrechte aller Menschen.
Ich möchte schließen mit einem Satz des heiligen Ambrosius. Er war Bischof in Mailand und hat im 4. Jahrhundert nach Christus gelebt. Er hat folgendes gesagt: „Es ist nicht dein Gut, mit dem du dich den Armen gegenüber großzügig erweist. Du gibst ihnen nur zurück, was ihnen gehört und hast dir herausgenommen, was zur allgemeinen Nutzung bestimmt ist. Die Erde ist für alle da nicht nur für die Reichen.“